I AM'STERDAM!   ..   Joe's kleines Tagebuch im Internet aus Amsterdam für Freunde und Interessierte

Dreihundertfünfundsechzig Tage
Ein Rückblick, der tiefer reicht als ein Jahr
Samstag, 10. September 2011
 
Mit einem eigenartigen Gefühl von Melancholie schaue ich auf den Kalender. Da war doch etwas. Wo, denke ich mir so, war ich eigentlich genau vor einem Jahr um diese Zeit? Genau. Da saß ich im Zug, da begann meine abenteuerliche Reise, mein Lebensabschnitt Niederlande. Doch dazu gleich mehr.

Vorher schaue ich im Geiste noch zwei Wochen weiter zurück. Ich war umgeben von Stress, war bei meinen Eltern und steckte inmitten der Vorbereitungen für die Reise. Gerade hatte ich meine Hallenser Wohnung abgegeben, die seit fast zehn Jahren mein Zuhause war. Zuletzt, noch während ich für meine letzte Prüfung gelernt habe, war sie schon fast leergeräumt gewesen und nun gab ich die Schlüssel zurück. Seltsames Gefühl. Als hätte ich ein Stückchen Heimat weggegeben.
Ich holte mein Diplomzeugnis vom Prüfungsamt der Uni ab. Noch so ein seltsames Gefühl überkam mich, ein Mix aus Freude und Traurigkeit. Einerseits hatte ich die Uni abgeschlossen. Ich hielt das Ergebnis meines Studiums in den Händen, den Schlüssel zur Karriere. Andererseits hatte ich die Uni abgeschlossen. Eine Zeit, wie sie im Leben nie wiederkehren wird, endete. Eine Zeit, in der ich mich zum ersten mal frei gefühlt habe, eine Menge gute Freunde gewinnen und viele interessante Erfahrungen sammeln konnte. Die bislang beste Zeit meines Lebens. Ein Abschied war das Diplom, ein Abschied von dieser ganz besonderen Zeit. Und von Freunden, die ich nicht mehr um mich haben würde, wenn ich Halle verlasse. Nun ging es in die Ferne, ohne Pause, ohne Besinnung zwischendurch. Ernstes Arbeitsleben. Ich wollte es so.
Letzte Woche in Deutschland. Ich habe noch einmal gute Freunde besucht und mich verabschiedet, man weiß nie wie gut Kontakte überleben. Ein paar Formalitäten auf den Ämtern, Abmelden, Nein, kein neuer Wohnort in Deutschland, Ja, es geht ins Ausland. Die letzten Tage zuhause waren geprägt von akribischer Planung. Es verlief alles gut und ohne Hektik, und doch war ich eigenartig angespannt. Man bereitet sich nicht jeden Tag auf eine Reise vor, die einen in ein neues Stück Leben führt. Nichts weniger war dies hier. Ich ging im Kopf Kleinigkeiten durch, technische Details, wollte nicht darüber nachdenken, wie ich mich fühlte dabei.
Zudem war die Reiseidee uneingeschränkt als verrückt zu bezeichnen. Eine Bahnreise sollte es sein. Als Gepäck hatte ich zwei große Rucksäcke, einen vorn, einen hinten. Und mein Fahrrad, welches mit drei großen Fahrradtaschen vollbepackt war. Fünfzig Kilogramm Dinge. Mehr brauchte ich nicht für mein neues Leben. Ich konnte mich mit meiner Fuhre ganz gut fahrend fortbewegen, das hatte ich vorher ausprobiert. Der Abschied war schwer und sentimentaler, als ich befürchtet hatte. Die Reise begann am späten Nachmittag. Regenwetter.

Ich fuhr mit Regionalzügen, weil man dort das Rad besser unterbekommt und weil es billiger war. Dafür dauerte die Fahrt lange und ich musste oft umsteigen. Ich hatte die Route so gelegt, dass ich zur Nachtpause, die die Regionalbahnen haben, in Münster bin und nicht in irgendeinem traurigen Winzigbahnhof im Niemalsland. Es half, weil es dort Nachts um zwei Kaffee gab und einen warmen Platz zum Sitzen. Eigenartige Stimmung während meiner Pause, Müdigkeit. Gegen vier ging es weiter. Ich passierte die Grenze und wechselte mehrmals den Zug. Die Rucksäcke zogen beim Umsteigen an meinen Schultern, und das schwere Rad durchs Gedränge schieben war auch alles andere als einfach. Dass es verboten ist, zur Berufsverkehrszeit Fahrräder mit in den Zug zu nehmen, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.
Gegen Mittag: Amsterdam. Ende der Reise. Vorerst. Samt meiner schweren Fuhre setzte ich mich nach Verlassen des Bahnhofs in Bewegung, meinen Vermieter suchen. Die richtige Straße fand ich nach einer Weile, das Büro der Wohnungsgesellschaft nach einer halben Stunde. Schlüssel abholen ging schnell, ich war angemeldet. Nun hieß es, meine Wohnung zu finden. Eine Odyssee begann, quer durch den Süden Amsterdams. Es fing an mit Regnen. Ich hatte mir zuhause eine Karte ausgedruckt, die jedoch die Fahrradstraßen nicht enthielt. Autostraßen sind hier oft eine Ebene höher gelegen und für Radfaher gesperrt und so kam es, dass ich völlig die Orientierung verlor. Der Regen wurde stärker, ich hatte seit 30 Stunden nicht geschlafen und fuhr mit meiner Zentnerfuhre suchend und fragend durch die Stadt. Verzweiflung kam in mir hoch, zusammen mit der Nässe und Kälte ein beklemmendes Gefühl. Meine Karte gab den Geist auf, zerfetzt vom häufigen Falten im Regen. Ich fragte einen nächsten Passanten nach dem Weg, und wieder bekam ich verwirrende Antworten, die mir nicht weiterhalfen. Wie viele Passanten hatte ich nun schon um Hilfe gebeten? Nächster Versuch. Endlich Glück, ich erwischte jemanden, der die Straße und das Wohngebiet kannte und quasi nebenan wohnte. Er führte mich hin. Ich schloss die Haustür auf, stellte mein bepacktes Rad ins Treppenhaus und ging zur Wohnung. Insgesamt brauchte ich vier Stunden für die Suche, und ich habe während dieser Zeit das richtige Gebiet mehrmals umrundet.
Das Apartment selbst war ein weiterer Schock, den ich nie vergessen werde. Ein trister dreckiger Flur. In der Küche gab es keine einzige Fläche, auf der man etwas hätte abstellen können, ohne dass es kleben geblieben wäre. Überall lag Müll herum, auf dem Boden in der Küche, im Flur, auf dem Balkon. Das Klo war von der Eingangstür aus geruchlich als solches auszumachen, und die ehemals weißen Fliesen hatten die Farbe von all dem angenommen, was bei kleinen und großen Geschäften danebenging. Die Dusche war einheitlich vergilbt und halbkaputt. Einzig mein Zimmer war ein Lichtblick, wenigstens. Es war sauber und ordendlich, die Möblierung schick und intakt. Ich entlud das Fahrrad, warf die Taschen in mein Zimmer. Zum Schluss schleppte ich mein Fahrrad die Treppe hoch und schloss es im Hausflur oben an. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass wir einen Keller haben. Ich rief zuhause an und teilte den Eltern mit, dass ich da bin. Ich war fest davon überzeugt, dass ich in diesem Drecksloch nicht bleiben möchte. Todmüde fiel ich ins Bett und schlief ein, nach eineinhalb Tagen auf den Beinen. So hatte ich mir den Start nicht vorgestellt. Ich schlief unruhig und lange.
Die nächsten Tage sahen nicht mehr ganz so trist aus. Ich lernte meinen italienischen und meinen brasilianischen Mitbewohner kennen. Sie waren freundlich und zeigten mir erstmal ein wenig die Stadt. Die Wohnung konnte man reinigen, defekte Dinge reparieren. Ich erforschte die nähere Umgebung, ging einkaufen, war das erste mal auf Arbeit. Erste Woche überstanden. Und die nächsten Wochen sollten noch besser werden. Ich arbeitete mich ein. Erledigte Formalitäten. Ich fühlte mich wohl in der Wohnung. Meine Mitbewohner wurden mir über die Zeit zu Freunden. Ich war mitten drin im Abenteuer Amsterdam.

Das ist nun alles etwa ein Jahr her. Ein Jahr! und es kam mir gar nicht lang vor. Zwischendurch habe ich so viel erlebt. Niederländische Lebensweise. Forschungsalltag. Große und kleine Konferenzen. Eine Reise in die USA. Verrückte Partys. Ich habe Freunde besucht zuhause, und Freunde haben mich besucht. Ich bin in eine bessere Wohnung umgezogen. Das ist ein Jahr Amsterdam!! Mal von dem holperingen Start abgesehen, genieße ich meine Zeit hier. Ich habe es nicht bereut, hier herzukommen. Neue Freunde habe ich gefunden und viel Kontakt zu alten Freunden aufrechterhalten. Die Fahrradaktion würde ich nicht noch einmal so machen, aber auch die bereue ich nicht. Ich fühle mich wohl! Und freue mich auf die nächsten dreihundertfünfundsechzig Tage!

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Diese Aufnahmen hier stammen mal nicht aus Amsterdam, sondern aus Wippra. Was es damit auf sich hat, erklärt die Galerie selbst.


Ein paar Amsterdam-Ansichten bei Tage


Nachtaufnahmen von Dach meiner alten Wohnung aus


Mein erstes hier gebackenes Brot .. sieht doch gar nicht so schlecht aus, oder?


Natürlich gibts viel Wasser hier. Das ist der Meerarm, der durch Amsterdam führt, samt moderner Promenade und super Ausblick auf einen neueren Teil von Amsterdam.


Viel Regen bedeutet viele Wolken - und solch schöne Bilder im Abendlicht. Das Wohngebiet selbst hier ist nicht so fotogen.


Die Pflanze habe ich von Jochen bekommen. Mein erstes eigenes "Grün" hier .. sie hat einen Ehrenplatz auf dem Fensterbrett. Ich hab blos vergessen, welcher Art die Pflanze angehört.

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